Erinnern und Versöhnen die Kirche und die Verfehlungen in ihrer Vergangenheit

Tutti i documenti (830)

Internazionale Theologische Kommission

Città del Vaticano       07/03/1999

INHALT

Vorwort des Herausgebers
Einleitung

Erstes Kapitel
DAS THEMA: SCHULDBEKENNTNISSE IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART
1.1 Die Sichtweise vor dem II. Vatikanum
1.2 Die Aussagen des Konzils
1.3 Die Vergebungsbitten Johannes Pauls II.
1.4 Die zur Beantwortung anstehenden Fragen

Zweites Kapitel
BIBLISCHE ZUGÄNGE ZUR FRAGE: HEILIGES GOTTESVOLK UND SCHULD
2.1 Altes Testament
2.2 Neues Testament
2.3 Das biblische "Jubeljahr
2.4 Zusammenfassung


Drittes Kapitel
SYSTEMATISCHE DARSTELLUNG
3.1 Die Kirche: Zeichen und Werkzeug des universalen Heilswillens Gottes
3.2 Die Kirche ist heilig ...
3.3 ... und als Gemeinschaft aus Menschen stets der Buße und der Reinigung bedürftig
3.4 Die Kirche Gottes ist unser aller Mutter im Glauben


Viertes Kapitel
HISTORISCHE UND THEOLOGISCHE BEURTEILUNG GESCHICHTLICHER VORGÄNGE
4.1 Die Schwierigkeit, Geschichte zu interpretieren
4.2 Geschichtsforschung und theologische Auswertung

Fünftes Kapitel
MORALISCHE BEWERTUNG
5.1 Ethische Kriterien und das Problem ihrer Anwendung
5.2 Am Beispiel: Spaltung der Christenheit
5.3 Am Beispiel: Anwendung von Gewalt im Dienst an der Wahrheit
5.4 Am Beispiel: Verhältnis von Christen und Juden
5.5 Wer trägt die Verantwortung für die Mißstände in der Gegenwart?

Sechstes Kapitel
PASTORALE UND MISSIONARISCHE PERSPEKTIVEN
6.1 Pastorale Zielsetzung
6.2 Ekklesiale Implikationen
6.3 Konsequenzen für den Dialog und für die Mission

Siebtes Kapitel
ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK



VORWORT DES HERAUSGEBERS

Der Aschermittwoch des Heiligen Jahres 2000 der Menschwerdung des Sohnes Gottes wird die Welt in Erstaunen versetzen. In Rom, dem Ort des Martyriums der Apostel Petrus und Paulus, will Papst Johannes Paul II. als universaler Hirte der Kirche Gott öffentlich um Vergebung bitten für die Schuld ihrer Söhne und Töchter.

Ist diese Vergebungsbitte Ausdruck ungebrochener Glaubensstärke der katholischen Kirche, oder meldet sich ein Zweifel an ihrer Sendung? Kapituliert sie vor kirchenfeindlicher Polemik, oder handelt es sich gar um einen Propagandatrick, um ihre Kritiker zu beschwichtigen?

Diesen Akt der Vergebungsbitte kann man in seinem Sinn und Ziel nur verstehen, wenn man sich einlässt auf das Selbstverständnis der Kirche. Sie versteht sich nicht als eine von Menschen organisierte Gesellschaft, die mit einem von Menschen ausgedachten religiösen und ethischen Programm vor die Welt tritt.

Vielmehr ist mit der Kirchenkonstitution des II. Vatikanischen Konzils (21.11.1964) zu sagen: "Das Geheimnis der heiligen Kirche wird in ihrer Gründung offenbar" (Lumen gentium, 4). Die Kirche verdankt sich in ihrem Ursprung und in ihrem Auftrag dem Heilswillen des dreifaltigen Gottes gegenüber der ganzen Menschheit.

Seinen universalen Heilswillen hat Gott, der Vater Jesu Christi, in der Menschwerdung seines Sohnes und in der Ausgießung seines Geistes geschichtlich konkret in Raum und Zeit durch Jesus Christus verwirklicht, so dass er allein der von Gott geoffenbarte Mittler zwischen Gott und den Menschen ist (vgl. 1 Tim 2,4f.): "Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen" (Apg 4,12).

Durch die Gemeinschaft der an ihn Glaubenden führt der von den Toten auferstandene Herr seine Sendung bis ans Ende der Geschichte fort. Er bleibt für immer bei seinen Jüngern, und durch sie ruft er die Menschen zum Glauben und erhellt damit das Rätsel menschlicher Existenz. Im Licht Christi kann jeder Mensch seine höchste Berufung erkennen: die Gemeinschaft mit dem Gott der dreieinigen Liebe und mit allen Menschen, die ihn gesucht und gefunden haben."Jesus Christus, das fleischgewordene Wort, ist das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet" (Joh 1,9.14.18). Er lässt seine Herrlichkeit auf dem Antlitz der Kirche widerscheinen, damit seine Kirche durch die Verkündigung der Botschaft vom ewigen Leben immer neu werde, was sie in ihrer Gründung im Geheimnis Christi ist.

"Die Kirche ist ja in Christus gleichsam Sakrament, d.h. Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit" (Lumen gentium, 1).

Die Kirche ist heilig, weil sie das Heilsinstrument des heiligen Gottes ist, der im Gang der Geschichte durch die Kirche seinen Heilswillen auf alle Menschen bezieht und in ihr jeden einzelnen persönlich anspricht. Deshalb ist sie unzerstörbar im Bekenntnis der Heilstaten Gottes, in ihrem Glauben, ihrer Lehre und in den sakramentalen Lebensvollzügen, die Christus ihr eingestiftet hat. Weder innerer Zerfall noch Feindschaft von außen, die alle menschlichen Gemeinschaftsgebilde in ihrem Bestand bedrohen, werden sie jemals überwinden (Mt 16,18). Aber die Kirche des dreieinigen Gottes besteht auch aus Menschen, die auf dem Weg ihres Glaubens immer versagen und der Versuchung zur Sünde verfallen können. Zur Kirche als der in der Welt sichtbaren Gemeinschaft der Glaubenden in ihrer sichtbaren Gestalt gehören darum immer auch Sünder.

"Die Kirche ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung. Die Kirche (Augustinns, Civ. Dei, XVIII, 51,2) und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt (vgl.1 Kor 11,26). Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um ihre Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende im vollen Lichte offenbar werden wird" (Lumen gentium, 8).

Somit gehört zum Weg der Kirche auch das Bekenntnis zur Erneuerung und die Bitte um Vergebung (ecclesia semper reformanda). Die Kirche gewinnt damit an Glaubwürdigkeit vor Gott und den Menschen. Sie dient der Einheit der Menschen unterschiedlicher Kulturen, Religionsrichtungen und Weltanschauungen, wenn sie um Vergebung bittet für das Übel, das in der Vergangenheit von Gliedern der Kirche und gerade auch von ihren Repräsentanten den Menschen anderer Gemeinschaften zugefügt worden ist. Zwar gibt es keine Kollektivschuld, deren Zurechnung eine Verletzung der ethischen Verantwortung jeder Person für ihre eigenen Taten wäre. Aber Verantwortung, Schuldübernahme und Bitte um Verzeihung dienen einer "Reinigung des Gedächtnisses", das Menschen und Menschengruppen auch über die Generationen miteinander verbindet oder trennt und gegeneinander aufbringt. Die Formulierung "Reinigung des Gedächtnisses", wörtliche Wiedergabe des italienischen Ausdrucks "purificazione della memoria", bedeutet eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen, von der Sünde entstellten Vergangenheit der Gemeinschaft, der man angehört. Dadurch soll die Möglichkeit der Versöhnung eröffnet werden. Nicht gemeint ist damit ein Sich-Reinwaschen, das auf ein Verdrängen oder bloßes Vergessen von Schuld hinausläuft und einen endgültigen Schlußstrich unter die Vergangenheit setzen will. Ziel ist eine "versöhnte Erinnerung" an die Wunden, die man sich in der Vergangenheit zugefügt hat (vgl. unten 5.1).

Das theologische Verständnis von Sein und Sendung der Kirche hat auch unmittelbare Auswirkung auf das Verständnis und die Interpretation ihrer Geschichte. Die theologisch-wissenschaftliche Disziplin "Kirchengeschichte" hat zwei Extreme zu vermeiden, die bei allem Gegensatz im gleichen falschen Bild von Kirche zutiefst miteinander verbunden sind. Zu vermeiden ist eine Apologetik, die alle Schattenseiten und alles Versagen herunterspielt oder leugnet. Töricht und unfruchtbar wäre auf der anderen Seite aber auch eine fundamentalistische Kritik, der es um den Aufweis geht, dass die Kirche nicht von Gott kommen kann und dass sie im innersten Wesen korrumpiert sei, wenn man sie an ihren Idealen misst.

Von dieser Seite her wird der katholischen Kirche eine aus immer den gleichen Punkten bestehende Kurzlitanei vorgehalten: Kreuzzüge - Inquisition Hexenwahn - Wissenschaftsfeindlichkeit - Intoleranz. Neuerdings sind weitere Elemente hinzugetreten. Man macht das Christentum verantwortlich für den ausbeuterischen Umgang des Menschen mit der Schöpfung. Man bezichtigt die katholische Kirche der Sexualfeindlichkeit und der Behinderung der Emanzipation der Frau. Dieser Kanon der Kritik an allem, was mit der katholischen Kirche zusammenhängt, bleibt dem engen eurozentrischen Horizont der westlichen Welt zwischen dem 17. und 20. Jahrhundert verhaftet. Er ist markiert von globalen Vorwürfen und Schuldzuweisungen aus der konfessionalistischen Polemik des 17. Jahrhunderts und der folgenden Epoche der Religionskritik, im Rationalismus der Aufklärung, der antikirchlichen Propaganda des Liberalismus sowie der totalitären Ideologien des Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus. Dies beschränkt sich auf das Verhältnis der Kirche zur Gesellschaft und ihren Institutionen. Genau genommen reduziert sich der "Kanon der Kritik" auf die Epoche der abendländischen Christenheit, das sogenannte "Mittelalter", als Kirche und weltliche Gesellschaft fast ununterscheidbar miteinander verflochten waren. Neuere Kritikpunkte sind nur die Nachwirkungen des Bildes, das sich seit dem 18. Jahrhundert im westlichen Europa bei meist klischeehafter und vorurteilsbefrachteter Interpretation des "Mittelalters" verfestigt hat. Geschichte soll nicht möglichst objektiv erforscht werden in ihren kulturellen, sozialen und mentalen Bedingungen und in den Motivationen ihrer handelnden Personen. Kirchengeschichte wird instrumentalisiert, um die Kirche als Gegenmacht zu den Idealen von Freiheit, Autonomie, Wissenschaft und Fortschritt zu desavouieren. Von dieser Seite ist kaum zu erwarten, dass das mea culpa der Kirche mit einem mea culpa der Anhänger dieser Geistesrichtungen für all das beantwortet wird, was im Namen dieser Ideale den Christen und den Menschen anderen Glaubens an Leid zugefügt worden ist. Sie werden sich in ihrer Anklagehaltung bestätigt fühlen und um so lauter der katholischen Kirche entgegenrufen: "Tua sola culpa ist seit zweitausend Jahren Christentum die Welt nicht besser geworden". Zu erwarten ist sicher auch, dass gegenwärtige innerkirchliche Spannungen in diese Vergebungsbitte hineinprojiziert werden. Es wäre nur eine weitere Form der Instrumentalisierung der Kirchengeschichte, wenn Christen - Glieder am Leib Christi, der die Kirche ist - den Papst zur Vergebung nötigen wollten für das, was sie für ein Versagen der Kirche angesichts der Herausforderungen der Gegenwart halten, wenn z.B. manche den Zölibat der Priester in der lateinischen Kirche fälschlicherweise für einen Mißstand halten, der mit dem Menschenrecht auf Ehe in Konflikt stehe, oder wenn sie die Lehre von der dem Mann vorbehaltenen Weihe mit den Themen der Vergebungsbitte vermengen, weil sie meinen, dass, ähnlich wie im Fall Galilei, die Tradition der Kirche von falschen naturwissenschaftlichen Annahmen ausgehe.

Die Vitalität der Kirche Jesu Christi erweist sich darin, dass sie die Gerechtigkeit des Schuldbekenntnisses für das Versagen in der Vergangenheit nicht zur Bedingung eines neuen Miteinanders machen muss. Sie hat die Kraft, den ersten Schritt zu tun. Die Kirche traut sich dies zu, weil sie um die Gabe der Heiligkeit weiß, aus der sie lebt und die sie ihrer Sendung zum Heilsdienst an den Menschen gewiss macht. Darum kann sie sich auch zu der Tatsache bekennen, dass es im Laufe ihrer Geschichte - gemessen am Evangelium, das sie zu allen Zeiten, auch durch den Mund ihrer sündigen Glieder, verkündet hat, und an den geistigen Erfordernissen der jeweiligen Geschichtsepoche - persönliche Sünden, erschreckendes Versagen, unangemessenes und unverantwortliches Handeln ihrer Glieder und ihrer Repräsentanten gegeben hat. In diesem Sinn kann man auch von Sünden nicht nur der einzelnen Glieder der Kirche, sondern auch von den Sünden der Kirche sprechen, besonders wenn sie von denen begangen wurden, die ermächtigt waren, in ihrem Namen zu handeln. Es geht um das Handeln der Kirche in ihrer Auswirkung auf die zivile Gesellschaft und ihre Institutionen (Staat, Kultur, Wissenschaft, Kunst, Rechtsordnung u.a.). Nicht gemeint ist in diesem Zusammenhang die Infallibilität in der Auslegung der Offenbarung und die Wirksamkeit der sakramentalen Heilsvermittlung, die der Kirche anvertraut sind und die vom Geist Gottes vor Korruption und Zersetzung bewahrt werden (Lumen gentium, 25)

Papst Johannes Paul II. wagt als Repräsentant der universalen Kirche diesen Schritt im Dienst an der geschichtlichen Wahrheit, wenn er um Vergebung bittet für Sünden und Fehlleistungen der Kirche und ihrer Glieder in der Vergangenheit. Die Kirche lässt sich führen von Christus, der nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen, der seinen Jüngern mit dem Dienst der Fußwaschung ein Beispiel der Demut geschenkt hat

Die kritische Überprüfung der Vergangenheit und die Bitte um Vergebung für die Wunden, die im kollektiven Gedächtnis der religiösen und kulturellen Gemeinschaften zurückgeblieben sind und destruktiv nachwirken, hat als Ziel die Versöhnung unter den Menschen, die heute diesen Gemeinschaften angehören.

Die Internationale Theologische Kommission hat den Auftrag erhalten, mit einer wissenschaftlichen Studie diesen Akt der Vergebungsbitte vorzubereiten und in seinem tieferen Sinn zu erläutern.

Unter der Leitung von Prof. Dr. Bruno Forte (Neapel) hat eine Subkommission den Text "Memoria e riconciliazione. La Chiesa e le colpe del passato" erarbeitet. Als Mitglieder gehörten ihr an die Professoren Roland Minnerath (Strassburg), Christopher Begg (Washington D.C.), Francis Moloney S.D.B. (Washington), Anton Strukelj (Ljubljana, Slowenien), Thomas Norris (Maynooth, Irland), Jean-Louis Bruguès O.P. (Fribourg) und Rafael Salazar Cardenas M.Sp.S. (Guadalajara, Mexico). Er wurde in zwei Vollversammlungen der Internationalen Theologischen Kommission ausführlich diskutiert, nach Einarbeitung mehrerer Modi in forma specifica gebilligt und ihrem Präsidenten, Kardinal Joseph Ratzinger, Präfekt der Glaubenskongregation, vorgelegt, der ihn für die Veröffentlichung genehmigt hat.

Im Auftrag des Vorsitzenden der Internationalen Theologischen Kommission, des Präfekten der Kongregation für die Glaubenslehre, Joseph Kardinal Ratzinger, wird der Text veröffentlicht und hier den Lesern deutscher Sprache vorgestellt.

Zu beachten ist das eigene literarische Genus einer solchen Publikation. Man kann von ihr nicht die Geschlossenheit und den einheitlichen Duktus einer wissenschaftlichen Monographie eines Einzelautors erwarten. Die Stufen der Erarbeitung und der Endredaktion sind ebenso zu erkennen wie sich im Text die vielfältigen Perspektiven der Kulturen, der geographischen Räume und der historischen Perspektiven widerspiegeln. Deutlich zeichnet sich der Fächer theologischer Stile ab, in dem sich die Pluralität der Weltkirche präsentiert.

Bei dem Text der Kommission handelt es sich nicht um das offizielle Schuldbekenntnis der Kirche, das vom Papst am Aschermittwoch persönlich vorgetragen und das von ihm als Vertreter der universalen Kirche verantwortet wird. Es ist aber auch keine kirchengeschichtliche Spezialuntersuchung zum Thema "Kirche und Schuld in der Vergangenheit". Man wird wohl der literarischen Eigenart dieses Textes am besten gerecht, wenn er als eine Interpretationshilfe betrachtet wird, die von Fachleuten für Exegese, Kirchengeschichte und Ekklesiologie erarbeitet wurde, die - von den Bischofskonferenzen als Repräsentanten der Theologie ihrer Länder vorgeschlagen - sich durch Kompetenz und Treue zum Lehramt der Kirche auszeichnen. Im Licht der hier zusammengestellten theologischen Kategorien und hermeneutischen Prinzipien können sich Sinn und Tragweite dieser in der bisherigen Kirchengeschichte einmaligen Liturgie der Buße und der Vergebungsbitte erschließen und mitvollziehen lassen, die der Heilige Vater zu Beginn der Österlichen Bußzeit des Heiligen Jahres 2000 mit der ganzen Kirche und in ihrem Namen feiern möchte. Liturgie ist immer Lob und Verherrlichung Gottes (confessio laudis), der uns die Sünden vergibt, die zu bekennen er uns die Kraft geschenkt hat (confessio peccati).

Von Jesus Christus, dem Sohn Gottes belehrt, sprechen seit 2000 Jahren Christen Gott als ihren Vater an und bitten ihn: "Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig geworden sind" (Lk 11,4).

Wer ist mehr zu diesem Schuldbekenntnis im Namen der katholischen Kirche ermächtigt als der Bischof von Rom, der Nachfolger Petri, dem Christus im Abendmahlssaal Verleugnung und Umkehr vorausgesagt hatte? Es ist derselbe Apostel, dem der Herr auch die Verheißung gegeben hat:

"Ich aber habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht erlischt. Und wenn du dich einst bekehrt haben wirst, dann stärke deine Brüder" (Lk 22,32).

München, den 22. Februar 2000, am Fest Cathedra Petri
Gerhard Ludwig Müller



EINLEITUNG

In seiner Ankündigungsbulle des Heiligen Jahres 2000 Incarnationis mysterium (29. November 1998) hebt der Heilige Vater unter den Zeichen, "die in angemessener Weise dazu dienen können, die außerordentliche Gnade des Jubiläums intensiver zu erleben", die "Reinigung des Gedächtnisses" hervor.

Eine solche "Reinigung des Gedächtnisses" vollzieht sich als ein Prozess, der auf die Befreiung des individuellen und gemeinschaftlichen Gewissens von allen Formen des Ressentiments und der Gewalt zielt, die historische Schuld und Verfehlung hinterlassen haben. Als Mittel dazu dient eine vertiefte historische und theologische Beurteilung der betreffenden Ereignisse. Wenn dieses Urteil sich als richtig erweist, ermöglicht es eine entsprechende Schuldanerkenntnis und eröffnet einen wirklich gangbaren Weg zur Versöhnung.

Dieser Prozess kann sich in spürbarer Weise auch auf die Gegenwart auswirken, besonders da sich die Sünden aus der Vergangenheit in ihren Konsequenzen bis zum heutigen Tag belastend auswirken und auch in der Gegenwart eine Versuchung darstellen.

Darum fordert die "Reinigung des Gedächtnisses" "von allen einen mutigen Akt der Demut, nämlich die Verfehlungen zuzugeben, die von denen begangen wurden, die den Namen Christen trugen und tragen". (1)

Darauf gründet sich die Überzeugung, dass "wegen des Bandes, das uns im mystischen Leib miteinander vereint, wir alle die Last der Irrtümer und der Schuld derer mittragen, die uns vorausgegangen sind, auch wenn wir dafür keine persönliche Verantwortung haben und nicht den Richterspruch Gottes, der allein die Herzen der Menschen kennt, vorwegnehmen können".

Eindringlich fordert der Papst die Christen auf, "vor Gott und den Menschen, die durch ihr Verhalten verletzt wurden, zu den von ihnen begangenen Fehlern zu stehen" und er schließt: "Das sollen sie tun, ohne dafür irgend etwas einzufordern, stark allein durch (Röm 5,5)"(2).

Die verschiedenen Vergebungsbitten des Bischofs von Rom, die er in diesem Geist der Ehrlichkeit und Großmut geäußert hat, haben verschiedenartige Reaktionen hervorgerufen. Das unbedingte Vertrauen, das der Papst in die Macht der Wahrheit setzt, hat eine wohlwollende Aufnahme und Anerkennung gefunden sowohl bei Menschen innerhalb wie auch bei Menschen außerhalb der Kirche. Viele haben den Zuwachs an Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung unterstrichen, der auf diesen Umgang mit der eigenen Geschichte folgt. Es hat aber auch nicht an Vorbehalten gefehlt. Manche fürchten, dass in bestimmten historischen und kulturellen Kontexten das Eingeständnis der von Gliedern der Kirche begangenen Schuld als Kapitulation vor den eingefleischten Vorurteilen antikirchlich gesinnter Kreise aufgefasst werden könnte.

Angesichts von Zustimmung und Vorbehalt, auf das die Schuldanerkennung stößt, zeigt sich die Dringlichkeit einer umfassenden Reflexion der Gründe und Bedingungen sowie der genaueren Form von Bitten um eine Vergebung der Verfehlungen aus der Vergangenheit.

Mit dieser Aufgabe ist die Internationale Theologische Kommission betraut worden. In ihr sind Vertreter verschiedener Kulturen und Mentalitäten in der Mitte des einen katholischen Glaubens versammelt. In dem von dieser Kommission ausgearbeiteten Text wird eine theologische Reflexion der Bedingungen für die Möglichkeit der Akte einer "Reinigung des Gedächtnisses" angeboten.

Auf folgende Fragen soll eine Antwort versucht werden: Mit welchem Ziel werden diese zeichenhaften Akte vollzogen? Wer sind ihre adäquaten Träger? Wie sind ihre Gegenstände zu bestimmen, wenn historisches und theologisches Urteil präzis aufeinander bezogen sein sollen? Wer sind die Adressaten dieser öffentlichen Vergebungsbitten und Gesten der Versöhnung? Welche moralischen und ethischen Implikationen sind zu beachten? Welche möglichen Auswirkungen ergeben sich daraus für das Leben der Kirche und der Gesellschaft?

Das Ziel, das sich die Kommission mit diesem Text setzt, besteht nicht darin, einzelne historische Vorkommnisse zu prüfen und zu bewerten, sondern die Voraussetzungen zu klären, die die Grundlage bilden für die Reue über die Verfehlungen aus der Vergangenheit.

Nachdem das besondere Genus der hier vorgelegten Reflexion präzisiert worden ist, muss noch geklärt werden, was im folgenden unter "Kirche" verstanden wird, von der die Vergebungsbitte ausgesprochen wird. "Kirche" soll hier weder allein die historische Institution noch allein die geistlich-unsichtbare Gemeinschaft der Gläubigen bezeichnen. Unter Kirche versteht man immer die Gemeinschaft der Getauften in den beiden voneinander untrennbaren Dimensionen ihres Wesens: Sie ist sowohl sichtbar als handelndes Subjekt in der Geschichte unter der Leitung ihrer Hirten als auch zugleich in der Tiefe ihres Mysteriums geeint durch den Heiligen Geist, der in ihr wirkt und ihr Leben einhaucht. Es ist jene Kirche, von der das II. Vatikanische Konzil erklärt, dass sie "in einer nicht unbedeutenden Analogie dem Mysterium des fleischgewordenen Wortes ähnlich ist. Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes (vgl. Eph 4,16)".(3)

Die Kirche, die in einer wirklichen und tiefen Gemeinschaft ihre Söhne und Töchter der Vergangenheit ebenso wie die der Gegenwart umfasst, ist die einzige Mutter in der Gnade, die die Lasten auch der Schuld aus der Vergangenheit auf ihre Schultern zu nehmen vermag, um das "Gedächtnis zu reinigen" und die Herzen zur Erneuerung und einem Leben nach dem Willen des Herrn zu bewegen.

Die Kirche ist imstande dies zu tun, insofern Jesus Christus, dessen mystischer Leib sie ist und durch den er im Gang der Geschichte sakramental gegenwärtig bleibt, ein für allemal die Sünden der Welt auf sich genommen hat.

Im Aufbau richtet sich der Text nach den aufgeworfenen Fragen:
Im 1. Kapitel wird ein kurzer historischer Rückblick auf die Entwicklung des Themas gegeben. Im 2. Kapitel sollen die biblischen Grundlagen herausgearbeitet werden, um dann im 3. Kapitel die theologischen Bedingungen der Bitten um Vergebung zu vertiefen. Im 4. Kapitel geht es um eine Abklärung des Verhältnisses von historischer und theologischer Beurteilung kirchengeschichtlicher Vorgänge, um sich angesichts der unterschiedlichen Zeiten, Orte und Umstände ein korrektes und begründetes Urteil über spezifische Geschichtsereignisse bilden zu können. Das 5. Kapitel behandelt die moralischen Implikationen, während im 6. Kapitel die Konsequenzen für das pastorale und missionarische Handeln der Kirche bedacht werden, die sich aus der Vergebungsbitte für die katholische Kirche im Verständnis ihrer Sendung ergeben.

Im Bewusstsein jedoch, dass die Forderung, die eigene Schuld anzuerkennen, für alle Völker und Religionen sinnvoll ist, darf man von den hier vorgelegten Überlegungen eine Hilfe erwarten im Fortschritt aller auf dem Weg der Wahrheit, des brüderlichen Dialogs und der Versöhnung.

Am Ende dieser Hinführung zum Thema ist es sicher angebracht, das letzte Ziel jedes möglichen Aktes der "Reinigung des Gedächtnisses" anzusprechen. Diese Aufgabe der Gläubigen hat auch die Arbeit der Kommission innerlich bestimmt. Es handelt sich um die Verherrlichung Gottes. Denn ein Leben im Gehorsam gegenüber der Wahrheit Gottes und den Herausforderungen, die von ihr ausgehen, führt hin zu einer Form des Bekennens unserer Sünden und Fehler, die vom Bekenntnis zur ewigen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit des Herrn nicht zu trennen ist.

Das Bekenntnis der Sünde (confessio peccati), das getragen und erleuchtet ist vom Glauben an die Wahrheit, die frei macht und erlöst (confessio fidei), wird zu einem Bekenntnis des Lobes (confessio laudis), das sich an Gott richtet. Er allein weiß um den Zusammenhang der Sünden in Vergangenheit und Gegenwart. Nur in Jesus Christus, dem einzigen Retter der Welt, können wir uns von Gott und mit Gott versöhnen lassen. Er allein kann uns auch fähig machen, selbst denen Vergebung zu gewähren, die an uns schuldig geworden sind. Dieses Angebot der Vergebung hat eine besondere Signalwirkung, wenn man sich die vielen Verfolgungen vor Augen hält, die die Christen im Laufe der Geschichte erlitten haben.

In dieser Perspektive kommen den vom Heiligen Vater schon vollzogenen und in Aussicht genommenen Akten bezüglich der Schuld und der Verfehlungen der Vergangenheit eine exemplarische, ja prophetische Bedeutung zu. Dies betrifft ebenso die Religionen wie die Regierungen und die Völker auch über den Bereich der katholischen Kirche hinaus. Die Kirche kann in ihrer Absicht bereichert werden, wirksamer das Große Jubiläum der Menschwerdung Gottes als ein Ereignis der Gnade und der Versöhnung für alle zu feiern.

Erstes Kapitel

DAS THEMA: SCHULDBEKENNTNISSE
IN VERGANGENHEIT UND GEGENWART

1.1 Die Sichtweise vor dem II. Vatikanum

Das Jubiläum ist in der Kirche immer als eine Zeit der Freude über die in Christus empfangene Erlösung und als eine besondere Gelegenheit der Buße und der Versöhnung für die gegenwärtigen Sünden im Leben des Volkes Gottes betrachtet worden. Schon seit der ersten Feier des Heiligen Jahres unter Papst Bonifaz VIII. im Jahre 1300 war die Bußwallfahrt zu den Gräbern der heiligen Apostel Petrus und Paulus mit der Gewährung eines außerordentlichen (vollkommenen oder teilweisen) Ablasses verbunden gewesen, der, zusammen mit der Vergebung im Bußsakrament, der Ausheilung und Überwindung der zeitlichen Sündenstrafen dienen sollte, die als negative Auswirkungen der Sünden auf das Verhältnis des Menschen zu Gott und zu den Mitmenschen zu verstehen sind(4). In diesem Kontext wird sowohl hinsichtlich der sakramentalen Vergebung wie im Hinblick auf den Nachlass der Sündenstrafen der personale Charakter der Buße sichtbar. Im Laufe des "Jahres der Vergebung und der Gnade"(5) öffnet die Kirche in außergewöhnlicher Weise den "Schatz der Gnaden", den Christus für das pastorale Wirken hinterlassen hat(6).

Allerdings gab es bisher bei keinem Jubeljahr eine Gewissenserforschung über mögliche Verfehlungen der Kirche in der Vergangenheit. Ebensowenig wurde eine Vergebungsbitte an Gott gerichtet für ihr Verhalten in der näheren oder ferneren Geschichte.

Man findet in der gesamten Geschichte der Kirche keinen Präzedenzfall einer vom Lehramt selbst formulierten Vergebungsbitte für die Verfehlungen der Vergangenheit. Die Konzilien und die päpstlichen Dekretalien sanktionierten zwar die Missbräuche, derer sich Kleriker und Laien schuldig gemacht hatten, und nicht wenige Hirten der Kirche bemühten sich darum, sie abzustellen. Ganz selten ergab sich die Gelegenheit, dass kirchliche Autoritäten - Päpste, Bischöfe oder Konzilien - öffentlich Schuld und Verfehlungen anerkannt haben, für die sie die Verantwortung trugen. Ein berühmtes Beispiel dafür hat der Reformpapst Hadrian VI. gegeben, der in einer Botschaf t an den Reichstag von Nürnberg am 25. November 1522 aufrichtig bekannte: "Missbräuche in geistlichen Dingen, Übertretungen der Gebote, ja, dass alles sich zum Ärgeren verkehrt hat. So ist es nicht zu verwundern, dass die Krankheit sich vom Haupt auf die Glieder, von den Päpsten auf die Prälaten verpflanzt hat. , Prälaten und Geistliche, (Ps 14,3). Deshalb müssen wir alle Gott die Ehre geben und uns vor ihm demütigen; ein jeder von uns soll betrachten, weshalb er gefallen, und sich lieber selber richten, als dass er von Gott am Tage seines Zornes gerichtet werde."(7)

Hadrian VI. beklagte die zeitgenössischen Sünden und Fehler, genaugenommen die seines unmittelbaren Vorgängers Leos X. und seiner Kurie, ohne jedoch damit eine Vergebungsbitte zu verbinden.

Erst Papst Paul VI. wird eine Vergebungsbitte an Gott und auch an eine Gruppe von Zeitgenossen richten. Bei der Eröffnungsansprache zur z. Konzilssession bat der Papst "Gott und die getrennten Brüder des Orients" um Verzeihung, und er erklärte sich von seiner Seite aus dazu bereit, die Anfeindungen zu vergeben, denen die katholische Kirche ausgesetzt war.

In der Sicht Pauls VI. betrafen die von beiden Seiten vorauszusetzende Bitte um Vergebung und das gegenseitige Angebot der Vergebung allein die Sünde der Spaltung unter Christen.

1.2 Die Aussagen des Konzils

Das II. Vatikanum nimmt die gleiche Perspektive ein wie Paul VI. Die Konzilsväter sagen im Hinblick auf die Verfehlungen gegen die Einheit: "In Demut bitten wir also Gott und die getrennten Brüder um Verzeihung, wie auch wir unseren Schuldigem vergeben."(8)

Neben den Sünden gegen die Einheit der Kirche greift das Konzil weitere negative Erscheinungen der Geschichte auf, bei denen Christen eine bestimmte Verantwortung zukommt. "Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen eines unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern. Durch die dadurch entfachten Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen schufen sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft."(9)

Ähnlich beurteilt das Konzil "die Entstehung des Atheismus", bei der auch die Gläubigen "einen gewissen Anteil" haben können, insofern man sagen muss, "dass sie durch Vernachlässigung der Glaubenserziehung, durch missverständliche Darstellung der Lehre oder auch durch Mängel ihres religiösen, sittlichen und gesellschaftlichen Lebens das wahre Antlitz Gottes und der Religion eher verhüllen als offenbaren"(10). Außerdem "beklagt" das Konzil "die Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgend jemandem gegen die Juden gerichtet haben"(11). Dennoch verbindet das Konzil mit diesem Bedauern keine Bitte um Vergebung für die genannten historischen Fakten.

Vom theologischen Standpunkt aus unterscheidet das Konzil zwischen der unzerstörbaren Treue der Kirche und den Verfehlungen ihrer Glieder, Klerikern wie Laien, gestern und heute(12), d.h. zwischen sich selbst, insofern sie die Braut Christi ist "ohne Makel und Runzeln, heilig und unversehrt" (Eph 5,27), und ihren Söhnen und Töchtern, die Sünder sind, denen vergeben wurde und die berufen sind zu steter Umkehr und Erneuerung im Heiligen Geist. "Die Kirche, die in ihrem eigenen Schoß Sünder umfasst, ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig, sie geht immerfort den Weg der Buße und der Erneuerung."(13)

Das Konzil hat auch schon einige Unterscheidungskriterien herausgearbeitet hinsichtlich von Schuld oder Verantwortlichkeit der jetzt Lebenden für die Verfehlungen aus der Zeit früherer Generationen.

So wurde in zwei unterschiedlichen Zusammenhängen, die einmal das Verhältnis von Juden und Christen, zum anderen das Verhältnis zwischen den getrennten Christen aufgreifen, klargestellt, dass man den Zeitgenossen nicht die Sünden der Vorfahren anlasten kann, nur weil sie Mitglieder derselben religiösen Gemeinschaft sind:

- "Obgleich die jüdischen Obrigkeiten mit ihren Anhängern auf den Tod Christi gedrungen haben, kann man dennoch die Ereignisse seines Leidens weder allen damals lebenden Juden ohne Unterschied noch den heutigen Juden zur Last legen."(14)
- "In dieser einen und einzigen Kirche Gottes sind schon von den ersten Zeiten an Spaltungen entstanden, die der Apostel aufs schwerste tadelt und verurteilt; in den späteren Jahrhunderten aber sind ausgedehntere Verfeindungen entstanden, und es kam zur Trennung recht großer Gemeinschaften von der vollen Gemeinschaft der katholischen Kirche, oft nicht ohne Schuld der Menschen auf beiden Seiten. Den Menschen jedoch, die jetzt in solchen Gemeinschaften geboren sind und in ihnen den Glauben an Christus erlangen, darf die Schuld der Trennung nicht zur Last gelegt werden - die katholische Kirche betrachtet sie als Brüder und Schwestern, in Verehrung und Liebe."(15)

Für das erste Heilige Jahr, das nach dem Konzil 1975 gefeiert wurde, hatte Paul VI. das Thema "Erneuerung und Versöhnung"(16) vorgegeben, und er präzisierte es dann in der Exhortatio Apostolica Paterna cum benevolentia. Versöhnung muss sich vor allem und zuerst unter den Gläubigen der katholischen Kirche vollziehen".(17) Wie seit seinen Anfängen bleibt das Heilige Jahr eine Gelegenheit zur Umkehr und Wiederversöhnung der Sünder mit Gott mittels des Heilsdienstes der Kirche, den sie in ihren Sakramenten ausübt.

1.3 Die Vergebungsbitten Johannes Pauls II.

Papst Johannes Paul II. hat das Bedauern über die "schmerzenden Erinnerungen", die die Geschichte der innerchristlichen Spaltungen begleiten, nicht einfach nur wiederholt. Er ist über die Erklärungen seines Vorgängers Pauls VI. wie auch des II. Vatikanischen Konzils hinausgegangen(18) und hat die Vergebungsbitte auf eine Vielzahl von historischen Vorgängen ausgedehnt, in die die Kirche oder einzelne Gruppen von Christen - freilich in jeweils spezifischer rechtlich-politischer Kompetenz - involviert waren(19).

In dem Apostolischen Schreiben Tertio Millennio Adveniente (20) kündigte der Papst an, dass das Jubiläum des Jahres 2000 die Gelegenheit biete zu einer "Reinigung des Gedächtnisses" der Kirche "von allen Denk und Handlungsweisen, die im Verlauf des vergangenen Millenniums geradezu Formen eines Gegenzeugnisses und Skandals darstellten"(21).

Die Kirche ist eingeladen, "sich stärker der Schuld ihrer Söhne und Töchter bewusst zu werden". "Die Heilige Pforte des Jubeljahres 2000 wird in symbolischer Hinsicht größer sein müssen als die vorhergehenden." Darum kann sie "die Schwelle des neuen Jahrtausends nicht überschreiten, ohne ihre Kinder dazu anzuhalten, sich durch Reue von Irrungen, Treulosigkeiten, Inkonsequenzen und Verspätungen zu reinigen"(22). Auch an die Verantwortlichkeit der Christen für die Übel unserer Zeit wird erinnert(23), wenngleich der Akzent vornehmlich auf der Solidarität der Kirche von heute mit den Fehlhaltungen von gestern liegt, wovon schon die Rede war, wobei etwa an die Spaltung der Christenheit zu denken ist(24) oder an "die Methoden der Intoleranz oder sogar der Gewalt"(25), die für die Verkündigung des Evangeliums herangezogen wurden.

Fördern möchte der Papst auch eine theologische Vertiefung dieser bewussten Annahme des historischen Versagens und der möglichen Bitte um Vergebung gegenüber den Zeitgenossenz(26). Im Apostolischen Schreiben Reconciliatio et Paenitentia bekräftigt er den Glauben, dass im Sakrament der Buße "der Sünder sich mit seiner Schuld allein vor Gott gestellt sieht, seiner Reue und seinem Heilsvertrauen. Keiner kann an dessen Stelle oder in seinem Namen um Vergebung bitten." Die Sünde ist daher immer der Person eigen, wenn sie auch die ganze Kirche verletzt und beeinträchtigt, die, vergegenwärtigt durch den Priester als Diener des Bußsakraments, die sakramentale Vermittlerin der Versöhnungsgnade mit Gott ist(27).

Auch die Situationen, die innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft durch Verletzung der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Friedens die "soziale Sünde" bedingen, "sind immer Frucht, Verknotungen und Zusammenballung von persönlichen Sünden". So sehr sich oft auch die moralische Verantwortung in anonymen Ursachen fast aufzulösen scheint, so sehr muss man dagegen betonen, dass von sozialer Sünde nur in einem analogen Sinn die Rede sein kann(28).

Daraus ergibt sich die Einsicht, dass Schuld im eigentlichen Sinne des Wortes den Personen nicht angerechnet werden kann, die nicht freiwillig in Tat, Unterlassung oder Fahrlässigkeit dem schuldhaften Tun zugestimmt haben.

1.4 Die zur Beantwortung anstehenden Fragen

Die Kirche ist eine lebendige Gemeinschaft, die in der Folge der Generationen durch die Geschichte geht. Ihr Gedächtnis ist nicht nur durch die auf die Apostel zurückreichende Tradition geprägt. In ihrem Gedächtnis sind auch die verschiedensten historischen Erfahrungen im positiven und negativen Sinn gespeichert, die sie erlebt und durchlebt hat. Die Geschichte der Kirche bestimmt zu einem großen Teil ebenso ihr Bewusstsein in der Gegenwart. Die Lehrtradition, die Überlieferungen ihres liturgischen, kanonischen und aszetischen Lebens bieten der gegenwärtigen Gemeinschaft der Glaubenden reiche Nahrung. Sie sind gleichsam wie ein unerschöpflicher Katalog von nachahmenswerten Modellen, die für die Gestaltung christlichen Lebens bereitstehen. Aber während ihrer ganzen irdischen Pilgerschaft wird der gute Weizen unentwirrbar mit dem Unkraut zusammenstehen (vgl. Mt 13,24-30. 36-43), d.h. die Heiligkeit steht neben Untreue und Sünde(29)

Und so kann die Erinnerung an die Ärgernisse der Vergangenheit das Zeugnis der Kirche von heute behindern, wie umgekehrt das Eingeständnis des Versagens der Söhne und Töchter der Kirche von gestern die Erneuerung und Versöhnung in der Gegenwart begünstigen kann.

Die Schwierigkeit, die sich abzeichnet, besteht in einer genauen Beschreibung der Sünden der Vergangenheit im Hinblick vor allem auf die Kriterien einer historischen Urteilsbildung. Man muss genau unterscheiden zwischen der Verantwortung oder der Schuld, die Christen als gläubigen Gliedern der Kirche zukommt, und den Verfehlungen, die mit der christlich geprägten Gesellschaftsform einiger Jahrhunderte (der sogenannten cristianità) zusammenhängen, als die Strukturen der weltlichen und geistlichen Macht ineinander verwoben waren.

Ohne eine wirklich geschichtliche Hermeneutik, die zwischen dem Handeln der Kirche als Glaubensgemeinschaft und einer christianisierten Gesellschaft klar zu unterscheiden weiß, kommt hier niemand weiter.

Die von Johannes Paul II. unternommenen Schritte auf konkrete Vergebungsbitten hin sind in den verschiedensten Bereichen, im kirchlichen wie auch im nichtkirchlichen Milieu, als Zeichen der Vitalität und Authentizität der Kirche verstanden worden, die sie in ihrer Glaubwürdigkeit nur bestärken können.

Damit kann die Kirche auch falsche und nicht akzeptable Vorstellungen über sich relativieren, die in einflussreichen Kreisen gehegt werden, wo man ignorant oder wider besseres Wissen die Kirche mit Obskurantismus und Intoleranz identifiziert.

Die Vergebungsbitten des Papstes haben indessen im positiven Sinn einen Wetteifer im kirchlichen Bereich und darüber hinaus ausgelöst. Denn auch höchste Repräsentanten von Staaten und privaten wie öffentlichen Gesellschaften sowie die Führer religiöser Gemeinschaften bitten gegenwärtig um Vergebung für bestimmte geschichtliche Vorkommnisse in Perioden, die von Ungerechtigkeiten gekennzeichnet waren.

Diese Handlungen sind das Gegenteil von bloßer Rhetorik, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass viele zögern, die Vergebungsbitte zu billigen und mitzuvollziehen aus Angst vor den - nicht nur im gerichtlichen Sinn verstandenen- "Kosten", die eine Anerkennung der Mitverantwortung für die negativen Ereignisse der Geschichte mit sich bringen könnte. Gerade auch unter diesem Gesichtspunkt erweist sich die Bildung eines historischen Urteilsvermögens als vordringlich.

Nicht zu übersehen ist auch, dass sich manche Gläubige von dem kirchlichen Schuldbekenntnis vor den Kopf gestoßen fühlen, insofern ihre Loyalität gegenüber der Kirche erschüttert werden könnte. Einige fragen, wie es möglich sein soll, der jungen Generation eine Liebe zur Kirche einzupflanzen, wenn man dieser Vergehen und Sünden anlastet. Andere beobachten mit Sorge, dass das Schuldbekenntnis der Kirche sehr einseitig bleiben könnte und eingefleischte Kirchenhasser es als Bestätigung ihrer Vorurteile und als Waffe antichristlicher Propaganda missbrauchen.

Andere schrecken davor zurück, die heutigen Generationen der Gläubigen willkürlich für das Versagen in der Vergangenheit zu beschuldigen, vor allem für Taten, denen sie in keiner Weise zugestimmt hätten, obgleich sie sich bereit erklären, Verantwortung zu übernehmen, und zwar in dem Maß, in dem menschliche Gemeinschaften sich auch heute noch von den Nachwirkungen betroffen fühlen, die von den Ungerechtigkeiten herrühren, deren sich ihre Vorfahren schuldig gemacht haben. Andere schließlich halten dafür, dass die Kirche ihr "Gedächtnis reinigen" soll hinsichtlich zweifelhafter Aktionen, in die sie verwickelt war, indem sie einfach teilnimmt an der kritischen Aufarbeitung des historischen Bewusstseins, das sich in unserer Gesellschaft entwickelt hat. So könnte sie gemeinsam mit allen Zeitgenossen all das ablehnen, was das moralische Gewissen zurückweist, ohne sich als die einzige schuldige und verantwortliche Gemeinschaft für alle Übel der Vergangenheit hinzustellen. Dies schließe gleichzeitig den im wechselseitigen Verstehen geführten Dialog mit denen ein, die sich noch heute von Vorgängen der Vergangenheit verletzt fühlen, die Gliedern der Kirche anzukreiden sind. Schließlich ist zu erwarten, dass auch einige andere Gruppen eine vergleichbare Vergebungsbitte reklamieren, analog zu anderen Gruppen oder weil sie glauben, ebenfalls Unrecht erlitten zu haben.

Auf jeden Fall ist aber festzuhalten, dass die "Reinigung des Gedächtnisses" nicht den Verzicht der Kirche auf ihre Sendung bedeuten kann, die geoffenbarte Wahrheit in Glaubens- und Sittenfragen zu verkünden, die ihr von Gott anvertraut worden ist.

Es kristallisieren sich also verschiedene wichtige Fragestellungen heraus: Kann man das Gewissen heutiger Menschen mit einer "Schuld" belasten, die untrennbar mit unwiederholbaren historischen Phänomenen verknüpft ist, wie z.B. die Kreuzzüge und die Inquisition?

Macht man es sich nicht zu leicht, die Protagonisten der Vergangenheit aus der Sichtweise der Gegenwart zu beurteilen, wie es die Schriftgelehrten und Pharisäer taten, die sagten: "Hätten wir in den Tagen unserer Väter gelebt, wären wir nicht wie sie am Tod der Propheten schuldig geworden" (vgl. Mt 23,29-32.30). Kann man ohne Rücksicht auf die Zeitumstände, in die jede Gewissensentscheidung eingebettet ist, die Handlungsweise der Vorfahren von einem (nur scheinbar) übergeschichtlich-reinen Gewissensstandpunkt aus beurteilen?

Aber von der anderen Seite her betrachtet kann man sicher nicht leugnen, dass das moralische Urteil immer im Spiel bleibt, schon allein auf Grund der schlichten Tatsache, dass die Wahrheit Gottes und ihre moralischen Forderungen immer Bestand haben. Welche Haltung hier auch immer einzunehmen sein mag, sie muss sich an diesen Fragen orientieren und darf ihr Niveau nicht unterschreiten. Es gilt, Antworten zu suchen, die zutiefst fundiert sind in der Offenbarung und in ihrer lebendigen Weitergabe im Glauben der Kirche.

Die vordringlichste Aufgabe besteht in der Beantwortung der Frage, welche Form die Vergebungsbitte für Verfehlungen aus der Vergangenheit haben kann, besonders wenn sie sich an heutige menschliche Gemeinschaften richtet.

Entscheidend ist hier das Evangelium von der Versöhnung des Menschen mit Gott und dem Nächsten. Diese Botschaft kann in ihrer tiefsten Bedeutung nur im Horizont eines biblischen und theologischen Horizontes erhellt werden.

122 visualizzazioni.
Inserito 01/01/1970